Interview mit Andreas Schwab MdEP zum 30-jährigen Bestehen des Binnenmarktes – „Europa ist der Herzschrittmacher der Welt“
Der Europäische Binnenmarkt wurde am 1. Januar 1993 geschaffen und ermöglicht den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital innerhalb der EU. Aber auch dreißig Jahre später ist der Binnenmarkt noch nicht vollendet, die Europäische Union versucht deswegen weiterhin die verbleibenden Hindernisse für die Freizügigkeit zu beseitigen und den Markt an neue Entwicklungen wie den digitalen Wandel und den Übergang zu einer weniger kohlenstoffintensiven und nachhaltigeren Wirtschaft anzupassen.
Über die Vorteile und Herausforderungen sprachen Angela Schweizer und Ilka Wölfle, stellvertretende Vorsitzende des Auslandsverbandes Brüssel der Europa Union mit Andreas Schwab (EVP, DE) und Gabriele Bischoff (S&D, DE).
Herr Schwab, wir feiern jetzt 30 Jahre Binnenmarkt! Es gibt immer noch viel zu tun – da es immer noch viele Hindernisse gibt. Was sind aus Ihrer Sicht die größten Errungenschaften des Binnenmarktes?
Der große Fortschritt den der Binnenmarkt geleistet hat, ist dass er den Wohlstand aller 27 Mitgliedstaaten und ihrer Bürgerinnen und Bürger in Europa stark gemehrt hat. In Prozenten lässt sich das schwer ausdrücken. Deswegen ist der 30-jährige Geburtstag des Binnenmarktes ein Grund zur Freude, auch wenn wir uns klarmachen müssen, dass wesentliche Entscheidungen auf dem Weg zum Binnenmarkt nicht von der Politik getroffen wurden sondern vom EUGH, weil der EUGH den Vertrag auch gegen mitgliedsstaatliche Interessen durchgesetzt hat. Daran sieht man, dass es am Ende eine politische Entscheidung ist wie der Binnenmarkt und die Regeln die uns alle betreffen umgesetzt werden, wo es manchmal auch Härte braucht. Deswegen wird es in den nächsten Jahren darum gehen, den Binnenmarkt weiter zu vereinfachen. Dies wird nur gelingen, wenn wir die „alten Zöpfe“ abschneiden. Dafür müssen wir politischen Mut haben und Verantwortung übernehmen. Das bedeutet auch weniger Einfluss für manche Regeln aus Deutschland und Frankreich, dafür aber ein einfacheres Leben für die Menschen in den Grenzgebieten.
Können Sie Beispiele nennen wie man Bürgerinnen und Bürger im Grenzgebiet helfen kann? Stichwort „Fast lane“?
Der Vorschlag der Kommission zum Notfallinstrument für den Binnenmarkt beruht auf der Erfahrung, dass die Mitgliedstaaten während der Corona-Krise – jedenfalls am Anfang – nicht auf eine möglichst effektive Lösung der Probleme gesetzt haben. Grenzschließungen konnten das Problem nicht stoppen. Dass sie genutzt wurden, zeigt dass wir das alte Denken in Europa noch nicht überwunden haben, aber auch noch kein neues Verfahren haben, um ähnliche Probleme in den Griff zu bekommen. Deshalb will die Kommission mit ihrem Vorschlag erreichen, dass die Mitgliedstaaten sich enger abstimmen und die fachlichen Themen im Mittelpunkt stehen – und nicht formale Grenzfragen. Dies ist ein wichtiger Vorschlag, aber um dahin zu kommen muss die Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten auf eine neue Ebene kommen. Da gibt es nach wie vor sehr viel Nachholbedarf. Auch wenn es vorrangig um arbeitsrechtliche und sozialrechtliche Vorschriften geht, müssen wir mehr Europa wagen. Auch im Krisenfall müssen die Grundfreiheiten sichergestellt werden. Dafür müssen die Mitgliedstaaten den Next Level erreichen und ihre Systeme besser anpassen.
Was sehen Sie momentan als größte Herausforderung vor der der Binnenmarkt steht?
Am Anfang lassen sich immer die größten Fortschritte erzielen. Es geht darum jetzt nicht nachzulassen. In Berlin oder Paris sind die Grenzgänger weit weg. Deshalb sind die Hauptstädte bei solchen Fragen sehr zurückhaltend. Aber die Folgen sind für alle verheerend. Für die Versorgung im Winter mit Grundnahrungsmitteln und Gemüse ist es essentiell für alle. Das Notfallinstrument für den Binnenmarkt mit Fast Lanes für Produktlinien und Dienstleister soll dazu einen Beitrag leisten. Hier sind die Arbeitsbehörden gefordert mitzumachen. Es bleibt nationales Recht, aber die abfragbaren Daten werden vereinheitlicht.
Glauben Sie, dass es in den nächsten 30 Jahren keine Hindernisse mehr geben wird?
Das Paradies wird nicht eintreten. Aber wir sehen leider, dass in Polen und Ungarn selbst Grundprinzipien des Binnenmarktes nicht voll umgesetzt werden. Letztlich ist der Binnenmarkt der Ausdruck für die Gesamtheit aller Regeln die unseren Alltag erleichtern. Die Grundfreiheiten sind das bestimmende Prinzip für den Binnenmarkt. Da wird es nur so gut gelingen die Regeln umzusetzen wie die Mitgliedstaaten selbst mitmachen.
Herr Schwab, auf den Inflation Reduction Act der USA hat die EU hat mit dem Green Deal Industrial Plan geantwortet: Kann die EU bei einem Subventionswettlauf mit den USA mithalten, vor allem in Zeiten steigender Zinsen? Und wird es mit dem Net Zero Industrial Act und Critical Raw Material Act gelingen, die Abhängigkeit von Drittstaaten zu reduzieren?
Die EU hat mit den Vorschlägen zum Green Deal Schrittmacherfunktion übernommen in der Welt. Die Amerikaner übernehmen nun das was die Europäer schon sehr lange machen.
Die EU kann darauf sicher nicht mit Subventionswettlauf reagieren, aber wir können bestimmte Schlüsseltechnologien einfacher fördern, aber der Spielraum dafür ist gering. Wir können insgesamt in Europa immer und über- all auf die beste Lösung konzentrieren, dafür müssen Mitgliedstaaten enger zusammenarbeiten. Unsere Idee ist es im Energiebereich einen kompletten Binnenmarkt herzustellen, dass Sie also zukünftig in Stuttgart auch aus Frankreich Elektrizität kaufen können. Dies würde die Wettbewerbsfähigkeit erheblich erhöhen. Das verlangt allerdings nicht nur mehr Wettbewerb, sondern eine bessere Abstimmung der bisher national organisierten Netze, aber dies ist am Ende der Schlüssel. Dieser Weg im Interesse Europas macht Anpassungen nötig, die einige Länder (noch) vermeiden möchten.
Herr Schwab, die Vorhaben im Bereich Klimawende sind sehr ambitioniert, dafür braucht es massive Importe z.B. aus dem globalen Süden im Bereich Photovoltaik. Gleichzeitig gibt es nun das Lieferkettengesetz, zu dem Sie sich in der Presse kritisch geäußert haben. Warum denken Sie, dass die Kontrollen wirkungslos sind und wie kann es gelingen für fairere Produktionsverhältnisse zu sorgen?
Wir haben alle das Interesse, die Ziele des Abkommens von Paris zu erreichen. Das werden wir am ehesten dadurch schaffen, dass wir mit den anderen unsere Gespräche und unseren Handel vertiefen und nicht auf einem moralischen höheren Level den anderen erzählen wie sie es zu machen haben. Wir müssen mit gutem Beispiel vorangehen und nicht mit Überheblichkeit. Dass wir es erst vor kurzem geschafft haben das Handelsabkommen mit den Kanadiern schließen ist ein Armutszeugnis, denn es gibt wenige Länder die uns in den Bereichen Menschenrechte, Umweltschutz, so ähnlich sind und trotzdem hat es so lange gedauert.
Wir müssen das große Ganze wieder sehen und nicht die kleinen Details. Wenn es uns nicht gelingt in Ländern wie Afrika sicherzustellen, dass Menschen gute Bildung bekommen werden wir immer die Gefahr haben dass sie lieber auf Kaffeeplantagen gehen. Eine allgemein Forderung „Die Welt muss besser werden“ bringt uns hier nichts. Die Grundanliegen müssen besser beachtet haben und wir müssen uns stärker auf die Risikostaaten konzentrieren.
Zum Thema globale Pionierarbeit – Sie waren Berichterstatter zum Digital Markets Act und Digital Services Act – gibt es hier schon weltweit Nachahmer?
Es gibt tatsächlich Beispiele wo wir in der Welt Vorreiter sind – was leider oft medial unter dem Radar läuft, insbesondere dort wo andere Länder noch gar nicht in der Lage oder nicht willens sind, Dinge umzusetzen. Man kann daher sagen, dass die gesamte digitale Plattformökonomie und die künstliche Intelligenz auf Dauer nur die gewünschten Effekte erzielen können, wenn es gelingt dass alle relevanten Informationen auch in den Systemen verfügbar sind. Was Digitalpolitik angeht haben wir wirklich neue Standards geschaffen. Wenn wir die Gesetze die wir jetzt haben richtig anwenden, werden andere Regionen der Welt folgen. Dies sind Schritte wo wir mit unseren Werten aus Europa in der Welt eine Rolle spielen. Damit kann man gut in die Europawahl gehen.
Das ist ein gutes Stichwort, Herr Schwab! Was haben Sie sich für die nächste Legislatur vorgenommen?
Man soll das Fell des Bären erst zerlegen, wenn man ihn gejagt hat. Die Wahl ist entscheidend, nicht die Nominierung. Ich glaube, dass wir mit all den Themen die wir angesprochen haben mit den Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch kommen müssen. Es ist wichtig, dass jeder versteht, dass Europa nur dann noch besser wird wenn wir gemeinsam mehr Verständnis für Entscheidungswege haben. Ein Besucher sagte mir heute früh, dass wir mehr Mehrheitsentscheidungen brauchen. Aber viele Länder werden nicht durch Mehrheitsentscheidungen, sondern durch Überzeugungsarbeit auf den Weg gebracht. Und darauf konzentriere ich mich auch bei den Bürgerinnen und Bürgern.
Das Interview führten Ilka Wölfle und Angela Schweizer, stellvertretende Vorsitzende der Europa-Union Brüssel