Im Gespräch mit Michael Köhler, Ehrenvorsitzender der EUD Brüssel und Generaldirektor a.i. der Generaldirektion Europäischer Katastrophenschutz und humanitäre Hilfe (ECHO)
Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, hat sich Michael Köhler, bereit erklärt, „aus dem Maschinenraum“ seiner Generaldirektion über die jüngsten europäischen Initiativen im Bereich des Zivilschutzes und der humanitären Hilfe zu berichten.
Michael Köhler bemerkt zu Beginn, dass der Krieg in der Ukraine momentan das bestimmende Thema sei, da er mit seinen geopolitischen und wirtschaftlichen Konsequenzen – und insbesondere durch die weltweite Verschlechterung der Ernährungssituation – massive Auswirkungen auf die multilaterale Ordnung hat. Es steht nun auf internationaler Bühne wieder die Frage im Raum „auf welcher Seite man stehe“ – wie zuletzt in den siebziger Jahren, als westliche Staaten bestrebt waren über ihre Entwicklungspolitik Stimmen in der UN-Generalversammlung zu gewinnen.
Mit Blick auf konkrete Hilfen der EU im Zusammenhang mit der Bewältigung des Krieges, weist Michael Köhler darauf hin, dass diese nicht nur die Ukraine selbst beträfen, sondern ebenso das Nachbarland, die Republik Moldau, sowie die baltischen Staaten. Die Einschätzung der Situation und der damit verbundenen Bedarfe ist dabei nicht nur reaktiv, sondern muss ebenso antizipieren und Vorsorge für mögliche weitere Eskalationsstufen des Krieges treffen. Was benötigt man zur Evakuation von Kiew? Wo können 3 Millionen zusätzliche Flüchtlinge untergebracht werden? Wie kann in den betroffenen Nachbarländern bzw. Aufnahmeländern die Versorgung mit Energie und Trinkwasser sichergestellt werden? Welche Zivilschutzmaßnahmen sind erforderlich bei einem Angriff auf die baltischen Staaten? Diesen und anderen Fragen stellt sich die GD ECHO seit Kriegsbeginn, und trifft entsprechende Vorbereitungen im Bereich des Zivilschutzes und der humanitären Hilfe.
Laut Michael Köhler sind die beiden Bereiche im Laufe der Zeit zusammengewachsen, unterliegen aber unterschiedlichen Kriterien und schöpfen ihre Mittel aus verschiedenen Budgets. Humanitäre Hilfe wird dabei ohne Ansehen der Person und ausschließlich nach Bedürftigkeit durch humanitäre Partnerorganisationen umgesetzt. Beim Zivilschutz, der eine nationale Kompetenz der Mitgliedstaaten darstellt, wird die Kommission zunehmend im grenzüberschreitenden Bereich aktiv und gewährt Hilfe z.B. bei Waldbränden und Flutkatastrophen. Das grenzüberschreitende Echtzeit-System der GD ECHO kommt dabei heute merheitlich außerhalb der EU zum Einsatz (wie z.B. in der Ukraine), aber auch innerhalb der EU lassen sich Beispiele benennen: so kamen italienische Löschflugzeuge in diesem Jahr im deutschen Harz zum Einsatz. Über eine Echtzeit-Anfrage Deutschlands an die GD ECHO kam so eine Finanzierung des Einsatzes und Bereitstellung durch die EU zustande (GD ECHO finanziert Flugzeuge und technische Geräte bis zu 100%, diese müssen dann dem EU-Zivilschutzmechanismus Verfügung gestellt werden).
Ein aktuell gemeldeter Bedarf der Ukraine ist beispielsweise die Lieferung von Hunderten von Generatoren zur Stromerzeugung, die z.B. der Stromversorgung von Krankenhäusern dienen. Allerdings ist der Markt dafür leer und es wird zunehmend schwierig derartige Güter zu beschaffen. Es stellt sich in diesem Zusammenhang auch vermehrt die Frage, inwiefern nationale Reserven für die Unterstützung der Ukraine aufgelöst werden können, oder ob diese weiterhin für die nationalen Bedarfe vorgehalten werden sollen. Finanzielle Unterstützung leistet die Kommission momentan über makrofinanzielle Hilfen, z.B. über Kredite zur Bezahlung öffentlicher Gehälter (18 Mrd. Euro), und nichtrückzahlbare Budgethilfen. In die meisten Maßnahmen sind mehrere Generaldirektionen involviert und es wird versucht über eine Mischung aus Infrastrukturmaßnahmen und vereinfachten Verfahren schnelle Abhilfe zu schaffen.
Seit dem russischen Einmarsch werden Zivilschutzmaßnahmen und humanitäre Hilfe gemeinsam in der Ukraine eingesetzt und der Bedarf in beiden Bereichen ist enorm: Schätzungen der UN zufolge benötigen bis Ende des Jahres 17,7 Mio. Menschen (von 44 Mio.) humanitäre Hilfe in Form von winterfesten Unterkünften (die meisten der ca. 6,5 Mio. Binnenflüchtlinge sind Frauen und Kinder), Nahrungsmitteln, Beschulungs- und Betreuungsmöglichkeiten, Gesundheitsschutzmaßnahmen, der Bereitstellung von Trinkwasser, sowie Maßnahmen zum Schutz vor Ausnutzung (z.B. Zwangsprostitution und Menschenhandel). Man kann dabei von Glück reden, dass im Falle der Ukraine fortwährend Gelder zu über 60% des Bedarfs bereitgestellt werden – dies sei bei anderen Krisen nicht der Fall.
Blickt man auf die Ausgaben der GD ECHO/EU in der Ukraine, so lässt sich folgendes Bild zeichnen: vor Beginn des Krieges beliefen sich die Ausgaben auf 25 Mio./Jahr (Budget GD ECHO für humanitäre Hilfe: 2,6 Mrd.); Stand jetzt fließen allein aus dem EU-Haushalt 500 Mio. an humanitärer Hilfe an die Ukraine und 35 Mio. an die Republik Moldau als Transitland. Mit diesen Geldern wird eine große Reihe an Projekten finanziert, darunter vor allem Maßnahmen zur Sicherstellung der Energieversorgung, zur „winterisation“ der Unterkünfte (z.B. durch den Bau winterfester Container in Schweden und Rumänien) und zur Unterstützung des Erziehungswesens (100 Mio. Euro, davon ein Drittel aus dem Haushalt der GD ECHO). Teil letzterer ist auch die Sammlung von Schulbussen in der EU, um die Beschulung von Kindern in abgelegeneren Gegenden zu gewährleisten.
Im Gegensatz zu humanitärer Hilfe, erfolgen Zivilschutzhilfen nicht über Partnerorganisationen, sondern werden direkt von der Kommission koordiniert und mit Hilfe staatlicher Agenturen umgesetzt. Dabei nutzt die Ukraine ein gut funktionierendes Zivilschutzverwaltungssystem, über welches sie ihre Anforderungen für alle möglichen Güter koordiniert. Diese Güter werden von der Kommission geliefert, sobald sie verfügbar sind. Die bisher von EU-Mitgliedstaaten gelieferten Sachspenden („in kind aid“-Mittel) belaufen sich auf einen Gegenwert von knapp einer halben Milliarde Euro, womit die bisherigen Gesamtleistungen der EU allein für Humanitäres und Zivilschutz sich auf etwa eine Milliarde summieren. Dies war alles möglich OHNE einen gleichzeitigen Mittelabzug aus anderen Regionen, durch die Mobilisierung zusätzlicher Haushaltsreserven. Leider sehe sich die EU dennoch häufig mit dem Vorwurf konfrontiert sich nur „um den eigenen Hinterhof zu kümmern“.
Mit Blick auf die künftigen Herausforderungen erklärt Michael Köhler, dass nicht nur die Bereitstellung von Gütern und Infrastruktur, sondern insbesondere auch die notwendige Logistik dafür im Mittelpunkt steht. In Polen habe man bereits große EU-Logistikzentren geschaffen, von denen aus private wie öffentliche Spenden in die Ukraine und in die Republik Moldau weiterverteilt werden. Diese EU-Zentren können auch von anderen Staaten und dem Privatsektor genutzt werden, bzw. können Projekte anderer Staaten über die Kommission koordiniert werden. So werden beispielsweise die Energieprojekte der G7 über die GD ECHO koordiniert. Insofern hat sich die Krise aus einer Kooperationsperspektive zwischen der EU und anderen Staaten oder Gremien wie der NATO, als Katalysator erwiesen. Die größte Herausforderung stellt laut Michael Köhler die bisher von der Politik unterschätzte Langfristigkeit der Krise dar: es muss davon ausgegangen werden, dass humanitäre Hilfe und Aufbauhilfen selbst nach Ende des bewaffneten Konflikts noch lange benötigt werden. Die Lager sind aber bereits jetzt für viele Güter leer und die notwendige Nachproduktion braucht Zeit – bei gleichzeitig steigenden Marktpreisen. Hinzu kommt bei einigen schwer zerlegbaren Gütern (z.B. Transformatoren) ein Transportproblem. Man stehe somit weniger vor einem Finanzierungsproblem als vor einem Problem des Materialbedarfs.
Das Gespräch wurde protokolliert von unserem Vorstandsmitglied Teresa Geyer