Interview mit MdEP Gabriele Bischoff zum 30-jährigen Bestehen des Binnenmarktes
Der Europäische Binnenmarkt wurde am 1. Januar 1993 geschaffen und ermöglicht den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital innerhalb der EU. Aber auch dreißig Jahre später ist der Binnenmarkt noch nicht vollendet, die Europäische Union versucht deswegen weiterhin die verbleibenden Hindernisse für die Freizügigkeit zu beseitigen und den Markt an neue Entwicklungen wie den digitalen Wandel und den Übergang zu einer weniger kohlenstoffintensiven und nachhaltigeren Wirtschaft anzupassen.
Über die Vorteile und Herausforderungen sprachen Angela Schweizer und Ilka Wölfle, stellvertretende Vorsitzende des Auslandsverbandes Brüssel der Europa Union mit Andreas Schwab (EVP, DE) und Gabriele Bischoff (S&D, DE).
Frau Bischoff: 30 Jahre Binnenmarkt – das ist ein sehr wichtiges Datum! Was sehen Sie als wichtigste Errungenschaften bisher, und wo sehen sie die größten Herausforderungen, vor denen der Binnenmarkt derzeit noch steht?
Jacques Delors, als Vater des Binnenmarktes, hatte eine Vision, eine Vorstellung davon, wie Europa sich entwickeln sollte: „Europa als Partner […] erfordert mehr Zusammenhalt, mehr Verantwortungsgefühl, mehr Initiative. Die Geschichte klopft an unsere Tür. Werden wir uns taub stellen?“. Heute agiert die EU weniger ambitioniert. Wir sehen eine Herausforderung und reagieren dann. Denken wir nur an die Pandemie und den Krieg. Wir haben jedes Mal reagiert und auch gut reagiert. Für große Projekte, wie etwa den Binnenmarkt, braucht es aber Mut und eine Vorstellung von der Zukunft. Wir brauchen deshalb Akteure, die sich trauen wieder große Projekte voranzubringen. Auch vor 30 Jahren, als der Binnenmarkt errichtet wurde, gab es Widerstand und Ängste.
30 Jahre später sehen Millionen von Menschen greifbare Vorteile. Dass ich in anderen EU-Ländern sofort arbeiten kann, ist ein Gewinn an Möglichkeiten. Dass ich der Liebe wegen in ein anderes EU-Land gehen, dort arbeiten und studieren kann, ohne dass ich als Ausländer diskriminiert werden darf, eröffnet neue individuelle Horizonte. Mit dem Binnenmarkt wurden parallel europaweit geltende Rechte für EU-Bürgerinnen und Bürger geschaffen. Millionen Menschen nehmen diese Rechte wahr, z.B. in einen anderen Mitgliedstaat zu leben, weil er ihnen bessere Berufschancen und neue Perspektiven bietet. Deshalb ist es so wichtig, die Freizügigkeit zu sichern und auszubauen. Während der Pandemie haben wir gesehen, was es bedeutet, wenn Mitgliedstaaten nur national reagieren: Plötzlich wurden die Grenzen dicht gemacht, in der Annahme, dass damit das Problem gelöst sei. Niemand dachte daran, was dies für 1,5 Millionen Grenzgängerinnen und Grenzgänger bedeutet. Ich erinnere mich an die Bilder aus Ostdeutschland, wo es enorme Auswirkungen hatte, dass z.B. in der Krankenpflege und im Handel Beschäftigte aus Tschechien oder Polen fehlten. Da hat man in der Öffentlichkeit deutlich gesehen und gespürt, was Freizügigkeit und offene Grenzen bedeuten.
Die mobilen Beschäftigten, insbesondere die Grenzgän-gerinnen und Grenzgänger sind eine besondere Gruppe, die Europa „im Kleinen leben“ und die niemand im Fokus hatte. Bei der Reform der Verordnung zur Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme EG/883/2004 will das Europäische Parlament sicherstellen, dass diese Gruppe von Erwerbstätigen besser unterstützt wird.
Frau Bischoff, wie kann es Ihrer Meinung nach gelingen, mehr Europa zu wagen? Wie kann man die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten auf eine andere Ebene bringen? Nicht nur die Französinnen und Franzosen wollen die vollständige Kontrolle über die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf ihrem Staatsgebiet halten.
Mein Traum ist ein echter europäischer Arbeitsmarkt, mit guter Arbeit für Alle – aber davon sind wir noch weit entfernt. Grundsätzlich gilt, dass jeder Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin in dem Land sozialversichert ist, in dem er oder sie einer Beschäftigung nachgeht. Wenn zum Beispiel jemand vorübergehend, für einige Wochen oder Monate von seinem Betrieb aus nach Frankreich entsandt wird, um einer Tätigkeit nachzugehen, muss sichergestellt sein, dass die Person im Heimatland sozialversichert ist. Nach der Koordinierungsverordnung muss dies nachgewiesen und – wann immer es möglich ist – vorab mitgeteilt werden. Frankreich legt diese Bestimmung enger aus als Deutschland und kontrolliert auch stärker. Sie wollen so Missbrauch verhindern und die Beschäftigten schützen.
Dafür sind sie monatelang in ihren Trucks quer durch Europa unterwegs, schlafen und essen dort. Um ihre Löhne endlich ausbezahlt zu bekommen, auf die sie Monate warten mussten, haben sie gestreikt und dabei breite Unterstützung der Bevölkerung erhalten. Vor Ort stellte sich heraus, dass keiner der Lkw-Fahrer ordentlich krankenversichert war. Stellen Sie sich vor, die steuern große Lastwagen durch ganz Europa und sind bei möglichen Unfällen nicht ordentlich versichert. Was für ein Risiko – sowohl für die Fahrer als auch für die Bevölkerung.
Sie waren in Polen bei einer Speditionsfirma angestellt, kamen aber überwiegend aus Usbekistan und Georgien. Sie versorgen uns und die Unternehmen mit notwendigen Waren. Dafür sind sie monatelang in ihren Trucks quer durch Europa unterwegs, schlafen und essen dort. Um ihre Löhne endlich ausbezahlt zu bekommen, auf die sie Monate warten mussten, haben sie gestreikt und dabei breite Unterstützung der Bevölkerung erhalten. Vor Ort stellte sich heraus, dass keiner der Lkw-Fahrer ordentlich krankenversichert war. Stellen Sie sich vor, die steuern große Lastwagen durch ganz Europa und sind bei möglichen Unfällen nicht ordentlich versichert. Was für ein Risiko – sowohl für die Fahrer als auch für die Bevölkerung.
Viele entsandte Beschäftigte arbeiten in der EU auf Baustellen. Sie kommen oftmals aus Osteuropa. Wenn ein Arbeiter vom Gerüst fällt und nicht sozialversichert ist, kann das enorme Folgen für ihn haben. In der Pandemie saßen Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter auf hohen Krankenhaus- oder Arztrechnungen, weil sie in Deutschland auf den Feldern eng beieinander schwer arbeiten durften, aber nicht ordentlich krankenversichert waren. Das ist nicht das Europa, das ich mir vorstelle. Der Markt allein regelt es nicht. Schon Delors wusste, dass der Binnenmarkt auch sozial flankiert werden muss.
Die EU muss besser als bisher sicherstellen, dass Binnenmarkt und Freizügigkeit ordentlich funktionieren und Sozial- sowie Lohndumping verhindert werden. Mithilfe digitaler Tools könnte dies einfach und schneller erfolgen, setzt aber den politischen Willen und entsprechende Investitionen der EU-Kommission sowie der Mitgliedstaaten voraus.
…und wir müssen sicherstellen, dass die Grundregeln bereits in den Mitgliedstaaten funktionieren, wenn jemand schon nicht in seinem Heimatland sozialversichert ist, beginnen die Probleme ja bereits vor einer Entsendung.
Hier könnte eine europäische Sozialversicherungsnummer enorm helfen. Damit ließe sich in Echtzeit verfolgen, ob und wie Erwerbstätige im Heimatland sozialversichert sind. Die IBAN-Umstellung hat gezeigt, dass wir das technisch bewerkstelligen könnten. Jean-Claude Juncker hat diesen Vorschlag bereits vor vielen Jahren eingebracht, es fehlte jedoch seitdem an Mut in den Mitgliedstaaten, diese Idee auch umzusetzen. Sie liegt auf Eis.
Wenn wir in die Zukunft gehen: Was sollte man Ihrer Meinung nach innerhalb Europas mit den Mitgliedstaaten voranbringen, um den Binnenmarkt weiter zu vollenden, auch für die Bürgerinnen und Bürger?
Wir sollten früh anfangen in den Schulen den Horizont zu weiten. Denken wir nur an Erasmus+: Es ist wichtig, dass Schülerinnen und Schüler sowie Auszubildende, genauso wie Studierende die Vorteile Europas früh erfahren können. Sei es durch Austausche, Praktika oder gemeinsame Projekte. Mein erster Gedanke im Austausch mit Gastschüler*innen aus England und Frankreich war damals: Wow, man kann Schule ja auch ganz anders machen!
Der Binnenmarkt ist eben nicht nur ein Raum, in dem man Waren und Produkte kaufen kann, die aufgrund einheitlicher Standards günstiger produziert werden können. Vielmehr sollten wir den Binnenmarkt auch als einen Raum begreifen, der Europäerinnen und Europäern neue Chancen und Perspektiven bietet. Einigen EU-Bürgerinnen und Bürgern ist nicht bewusst, dass der Binnenmarkt ihren Arbeitsplatz sichert bzw. neue Jobs schafft. Vielen ist nicht bewusst, dass es europaweite Sozialstandards sind, die gute Arbeitsbedingungen sichern. Ein exportorientiertes Land wie Deutschland profitiert davon, dass Spanierinnen und Spanier unsere Autos kaufen oder Italienerinnen und Italiener unsere Maschinen. Das sichert Wohlstand und den „European way of life“.
Wir feiern 30 Jahre Binnenmarkt und sollten uns bewusstmachen, welche Vorteile Binnenmarkt, Freizügigkeit und Schengen für uns bieten. Wenn wir das erhalten und weiterentwickeln wollen, sollten keine neuen Hürden innerhalb Europas errichtet werden. Politiker fordern vereinzelt wieder Grenzkontrollen oder Grenzschließungen. Das wäre fatal.
Und hier komme ich wieder auf Jacques Delors zurück. Die EU braucht wieder Mut und Kraft für eine Vision für die Zukunft Europas. Die Zukunftskonferenz hat dafür den Grundstein gelegt, ein EU-Konvent muss nun folgen. Ich könnte mir zum Beispiel, für die Bürgerinnen und Bürger, die wirklich durchgehend europäische Berufsbiographien haben, eine europäische Sozialversicherung vorstellen. Ich denke auch, dass wir die Idee einer einheitlichen europäischen Sozialversicherungsnummer nicht aufgeben sollte. Sie könnte auch dabei helfen, eine stärkere europäische Identität schaffen. Deshalb hoffe ich, dass dieses einst von der Europäischen Kommission ins Leben gerufene Projekt nicht für immer begraben bleibt, sondern in der Zukunft wieder aufgegriffen wird.
Die Europäische Säule sozialer Rechte (ESSR) ist zu einem zentralen Instrument in der Europäischen Sozialpolitik geworden. Sie verleiht den Bürgerinnen und Bürgern keine Rechte, sondern enthält 20 Grundprinzipen, die dabei helfen sollen, dass soziale Rechte besser in konkrete Rechtsvorschriften umgesetzt und angewandt werden. Wie stehen Sie dazu, die ESSR weiterzuentwickeln hin zu einem verbindlicheren Instrument?
Genau das schlagen wir in unserem „Artikel 48-Bericht“ für die Vertragsänderungen vor, denn ein Ergebnis der Zukunftskonferenz war, die ESSR in die EU-Verträge zu integrieren. Aus meiner Sicht ist die ESSR eine der größten sozialpolitischen Initiativen der letzten 20 Jahre. Und ich muss sagen, dass ich zu Beginn sehr skeptisch war.
Wir hatten ja schon soziale Grundrechte in den EU-Verträgen, wir haben einen Kanon an sozialem Sekundärrecht sowie einschlägige Urteile des Europäischen Gerichtshofs. Ich habe dann aber das Potenzial der Säule entdeckt und diese Initiative unterstützt. Und ich durfte daran mitwirken, so war ich 2017 bei der Proklamation der ESSR auf dem Sozialgipfel in Göteborg dabei. Wenn mich jemand in Göteborg gefragt hätte, ob ich mir vorstellen könnte, dass es in Folge der Säule eine verbindliche europäische Richtlinie zum Mindestlohn geben würde, hätte ich sicherlich mit dem Kopf geschüttelt.
Deswegen war es auch nach den Europawahlen 2019 so wichtig, dass gleich mehrere Fraktionen Frau von der Leyen ins Stammbuch geschrieben haben, die ESSR als Referenzrahmen oder Orientierungsrahmen beizubehalten. Denn aktuell gewinnt ein wichtiges Prinzip der Säule an Bedeutung: Das Recht auf Weiterbildung. Mit Blick auf die anstehenden Transformationen spielen die Weiterbildung, Umschulung und Fortbildung von Beschäftigten eine große Rolle. Europa braucht dringend Fachkräfte, steht aber gleichzeitig vor großen demographischen Herausforderungen. Wir werden einen Teil über Fachkräfteeinwanderung aus Drittstaaten sichern können.
Darüber hinaus müssen wir unbedingt diejenigen stärker qualifizieren und motivieren, die derzeit arbeitslos und sind oder dem Arbeitsmarkt bisher nur eingeschränkt zur Verfügung stehen. Hier bietet die ESSR einen wichtigen Orientierungsrahmen, einen Kompass, um diesen Wandel gerecht zu gestalten. Jean-Claude Junckers Vision der Säule war schließlich „ein Europa das schützt“.
Das ist ein schönes Abschlusswort. Was haben Sie sich für die kommende Legislatur vorgenommen?
Für mich ist ganz wichtig, dass wir Europa auf ein besseres Fundament stellen. Dass wir nicht nur auf Krisen reagieren, sondern gemeinsam die Zukunft gestalten. Dafür müssen wir Projekte identifizieren und gemeinsam vorantreiben. Wir müssen das schützen, was wir erreicht haben, Freizügigkeit, Binnenmarkt, den Schengen-Raum, das soziale Europa. Und wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern Europas eine Vorstellung davon geben, wie wir die aktuellen wie zukünftigen Herausforderungen besser gemeinsam bewältigen können.
Wenn wir in der Welt weiterhin eine Rolle spielen wollen, brauchen wir eine starke, handlungsfähige EU. Ich finde, dass wir in den anstehenden Transformationen – wir sehen das am Beispiel der Klimakrise oder Digitalisierung – den Menschen Sicherheit und Vertrauen in den Wandel geben und sie ermächtigen sollten, ihn mitzugestalten, in einem gemeinsamen Raum der Freiheit und des Rechts.
Das Interview führten Ilka Wölfle und Angela Schweizer, stellvertretende Vorsitzende im Vorstand der Europa-Union Brüssel