10 Jahre nach der letzten GEAS-Reform – Gibt es jetzt ein Momentum für eine grundlegende Neuregelung?
Von Dr. Lars Friedrichsen, Leiter der Vertretung des Landes Mecklenburg-Vorpommern bei der EU
Bei einem Innenministertreffen in Luxemburg am 8. Juni 2023 stimmte eine qualifizierte Mehrheit an Mitgliedstaaten für umfassende GEAS-Reformpläne (Gemeinsames Europäisches Asylsystem). Die Asylverfahren in der EU sollen nach Auffassung des Rates angesichts der Probleme mit illegaler Migration deutlich verschärft werden. Mit der Allgemeinen Ausrichtung können nun die Gespräche im informellen Trilog mit dem Europäischen Parlament beginnen, welches schon im April 2023 seine Verhandlungspositionen festgelegt hat.
Grundlagen und bisherige Entwicklungen
Durch die GEAS der EU soll jedem Drittstaatsangehörigen, der in einem der Mitgliedstaaten der EU internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Status gewährt und die Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung sichergestellt werden. Der Vertrag von Lissabon, der im Dezember 2009 in Kraft trat, hatte die Einführung eines gemeinsamen Systems mit einheitlichem Status und einheitlichen Verfahren zur Folge (Artikel 78 AEUV). Der Artikel 80 AEUV enthält u.a. für die Asylpolitik den Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten einschließlich in finanzieller Hinsicht. Mit Ausnahme der Anerkennungsrichtlinie (Januar 2012) traten die an den Vertrag von Lissabon angepassten neu gefassten Rechtsakte im Juli 2013 in Kraft (Eurodac-VO, Dublin-III-Verordnung, die Richtlinie über die Aufnahmebedingungen und die Asylverfahrensrichtlinie).
In den darauffolgenden Jahren suchten erheblich mehr Menschen als bis dahin üblich Asyl in den Mitgliedstaaten der EU. Nach Angaben des UNHCR erreichten im Ausnahmejahr 2015 alleine über den Seeweg rund eine Million Menschen die EU. Nach Schätzungen verloren weit über 20.000 Menschen seit 2014 auf der Mittelmeerroute ihr Leben.
Unter dem Eindruck dieser Ereignisse legte die Juncker-Kommission bereits im Mai 2015 eine Europäische Agenda für Migration vor. Konkrete Vorschläge für reformierte Rechtsvorschriften folgten im Frühjahr 2016. Bis zum Ende der Legislatur der Juncker-Kommission Ende Oktober 2019 konnten die Verhandlungen über die Reformvorschläge jedoch nicht abgeschlossen werden – zu groß waren die Interessenunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten. Exemplarisch dafür war der Streit um den Umsiedlungsmechanismus nach Artikel 78 Absatz 3 AEUV, den der Rat nach Billigung des Europäischen Parlaments am 14. September 2015 angenommen hat, um vor allem Italien und Griechenland bei der Bewältigung der hohen Zahl an Flüchtenden zu unterstützen. Ungarn und die Slowakei verloren die hiergegen angestrengten Klage vor dem EuGH und verweigerten doch in der Folge die Umsetzung des Ratsbeschlusses, was zu einem verlorenen Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH führte.
Ein „Neues Migrations- und Asylpaket“ sollte im September 2020 einen Neustart in den Verhandlungen herbeiführen. Er schließt in Teilen an die Vorschläge derJuncker-Kommission an, enthält aber auch neue Initiativen zur Reform des EU-Asylrechts. Er zielt im Kern auf „eine gerechtere Verteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten“. Es liegt den oben erwähnten Verhandlungspositionen von Rat und EP im Jahr 2023 zugrunde.
Wird eine Neuregelung der GEAS jetzt gelingen?
Das Europäische Parlament und die rotierende Ratspräsidentschaft haben sich verpflichtet, zusammenzuarbeiten, um die Reform der EU-Migrations- und Asylregen vor der Europawahl 2024 zu verabschieden. Aber es wird trotzdem noch ein großes Stück Arbeit auf die Verhandlerinnen und Verhandler zukommen.
Nach Vorstellung des Rates sollen ankommende Menschen aus als sicher geltenden Ländern künftig nach dem Grenzübertritt in kontrollierte Aufnahmeeinrichtungen kommen und dort ein Grenzverfahren durchlaufen. Dort würde dann im Normalfall innerhalb von zwölf Wochen geprüft werden, ob der Antragsteller Chancen auf Asyl hat. Wenn nicht, soll er umgehend zurückgeschickt werden. Auch das EP hat diese Entscheidungsstruktur in sein Verhandlungsmandat aufgenommen. Allerdings soll es den Staaten überlassen bleiben, ob sie das Grenzverfahren anwenden. Hier scheint es nicht gänzlich ausgeschlossen, dass Rat und EP in den Verhandlungen zusammenfinden werden.
Die Regelungen enthalten aber im Detail sehr schwierige Entscheidungen: Familien mit Kindern und unbegleitete Kinder sollen z.B. nach Vorstellungen des EP vom Grenzverfahren ausgenommen werden, der Rat will die Familien mit Kindern dagegen im Grenzverfahren halten. Auch bei der Frage, in wie und in welchem Umfang verbindliche Solidarität unter den Mitgliedstaaten geleistet werden soll, sind noch große Probleme zu erwarten, wenn man sich die bisherige Entwicklung seit 2013 ansieht.
Nach Vorstellung des Rates sollen ankommende Menschen aus als sicher geltenden Ländern künftig nach dem Grenzübertritt in kontrollierte Aufnahmeeinrichtungen kommen und dort ein Grenzverfahren durchlaufen. Dort würde dann im Normalfall innerhalb von zwölf Wochen geprüft werden, ob der Antragsteller Chancen auf Asyl hat. Wenn nicht, soll er umgehend zurückgeschickt werden. Auch das EP hat diese Entscheidungsstruktur in sein Verhandlungsmandat aufgenommen. Allerdings soll es den Staaten überlassen bleiben, ob sie das Grenzverfahren anwenden. Hier scheint es nicht gänzlich ausgeschlossen, dass Rat und EP in den Verhandlungen zusammenfinden werden. Die Regelungen enthalten aber im Detail sehr schwierige Entscheidungen: Familien mit Kindern und unbegleitete Kinder sollen z.B. nach Vorstellungen des EP vom Grenzverfahren ausgenommen werden, der Rat will die Familien mit Kindern dagegen im Grenzverfahren halten. Auch bei der Frage, in wie und in welchem Umfang verbindliche Solidarität unter den Mitgliedstaaten geleistet werden soll, sind noch große Probleme zu erwarten, wenn man sich die bisherige Entwicklung seit 2013 ansieht.
Richtig ist aber auch: Näher waren sich die Co-Gesetzgeber in diesen schwierigen Dossiers in den letzten Jahren noch nie. Eine gesetzgeberische Einigung erscheint zum ersten Mal seit langem nicht mehr völlig unmöglich zu sein.
Wie steht es um die Umsetzung?
Noch offen erscheinen allerdings Fragen der praktischen Umsetzung: Das Grenzverfahren hat seinen Vorläufer in den „Hotspots“, die die Kommission schon in der Migrationsagenda 2015 vorgeschlagen hat. Diese wurden spätestens seit der EU-Türkei-Erklärung in Griechenland zu geschlossenen Einrichtungen. Mehrere Menschenrechtsorganisationen wie „Amnesty International“ und „Human Rights Watch“ haben die Lebensbedingungen in den griechischen Hotspots als menschenunwürdig angeprangert.
Die sehr schlechten Lebensbedingungen in den dortigen Lagern gipfelten im September 2020 im Brand des Lagers „Moria“ auf Lesbos. Es wird großer Anstrengungen bedürfen, die europaweit einzuführenden Grenzverfahren besser auszugestalten.
Und nicht zuletzt: Laut dem Mid-Year Trends Report des UNHCR beträgt die Zahl der gewaltsam vertriebenen Menschen weltweit rund 103 Millionen. Die Zahl umfasst Flüchtlinge, Asylsuchende, Binnenvertriebene und andere schutzbedürftige Menschen. Die etwaige Neuregelung der GEAS müsste sich daher in einem historisch schwierigen Umfeld bewähren.
Der Autor ist Beisitzer im Vorstand der Europa-Union Brüssel