Genau am Europatag, am 9. Mai 2022, trug der ehemalige litauische Chefverhandler für den EU-Beitritt seines Landes, der jetzige Europa-Abgeordnete Petras Auštrevičius, im Hanse-Office seine Gedanken zur Entwicklung der europäischen Außenpolitik vor.
In einer bewegenden persönlichen Rede erinnerte Petras Auštrevičius zunächst daran, dass es für regimekritische Kinder in der Sowjetzeit immer „zwei Realitäten“ gab: die offizielle (Schul- und Berufs)-realität und die Wahrheit in den eigenen vier Wänden, wobei man selbst bei „Freunden“ nie sicher sein konnte, ob sie nicht möglicherweise für das System arbeiteten. Von dieser harten Erfahrung lernend, haben vor allem die baltischen Staaten ihren Beitritt zur NATO und der EU als außenpolitische Priorität behandelt. Innerhalb des Bündnisses stellten sie jedoch fest, dass die Russlandpolitik der Westmächte, inklusive Deutschland, viel stärker von wirtschaftlichen Gesichtspunkten bestimmt wurde. Allerdings hätten sich die Koordinaten langsam auch innerhalb der EU verschoben. Spätestens mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine sei jedermann klar geworden, dass das Russland Putins weder innen- noch außenpolitisch als Partner angesehen werden könne. Insofern begrüßte er auch harte, prinzipielle Antworten der EU und forderte noch stärkere Sanktionen, insbesondere im Energiesektor.
Der deutsche Botschafter im sicherheitspolitischen Ausschuss des EU-Rates, Thomas Ossowski, erläuterte die längjährige Politik gegenüber Russland vor dem Hintergrund der von allen geteilten Überzeugung, dass die Sicherheitsarchitektur in Europa nur „mit“, aber nicht „gegen“ Russland gestaltet werden könne. Daraus seien die OSZE-Strukturen und der NATO-Russland-Kooperationsrat entstanden. Allerdings habe sich nun erwiesen, dass Russland mit seinem brutalen Krieg an dieser Kooperation nicht mehr festhalte. Es stelle sich daher die Frage, zu welchem Zeitpunkt man diese Gefahr habe erkennen können. Nach der Invasion habe aber absolute Einigkeit geherrscht, entschlossen und gemeinsam vorzugehen, was sich an den Waffenlieferungen für die Ukraine und die sukzessiven Sanktionspakete auch jeden Tag wieder zeige.
Petra Mahnic, juristische Beraterin im Rechtsdienst des Rates, fügte hinzu, dass in außenpolitischen Fragen grundsätzlich die Einstimmigkeitsregel zur Anwendung käme und es daher schwer sei, eine gemeinsame Linie zu definieren. Gleichwohl habe sie im Laufe der Jahre beobachten können, wie die EU-Ostpolitik sich im Laufe der Jahre immer stärker konturiert habe. Bei dem Beschluss, die Europäische Friedensfazilität für Waffenlieferungen in Höhe von 500 Mio. € zu aktivieren, habe es sogar drei konstruktive Enthaltungen gegeben (Österreich, Irland, Malta). Dies zeige, dass der Wille der Geschlossenheit auch in der Außenpolitik zum Tragen komme. Außerdem habe die EU in der Krise sehr schnell gehandelt, was die Handlungsfähigkeit der EU stärke.
In der von Prof. Dr. Frank Hoffmeister geleiteten lebhaften Diskussion ging Botschafter Ossowski weiter auf den kürzlich vom Rat beschlossenen „Strategischen Kompass“ ein. In diesem Dokument betont die EU, ihre sicherheitspolitischen Fähigkeiten weiter auszubauen, mehr in den Sicherheitsbereich zu investieren und auch neuartige Bedrohungen (Cyber-Verbrechen, Terrorismus, Waffenverbreitung) anzugehen. Petras Auštrevičius unterstrich seine Auffassung, dass die Rolle der EU für die Lage in der Ukraine entscheidend sei, und er nicht verstehe, dass weiterhin russisches Gas bezahlt werde. Für Petra Mahnic spiegelt die heutige EU-Außenpolitik derzeit schon wesentlich mehr die Auffassung der osteuropäischen Mitgliedstaaten dar als früher. Freilich gehe es auch darum, langfristige Strukturen zu schaffen, und hier stehe die Gemeinsame Verteidigungspolitik erst am Anfang. Der Leiter des Hanse-Offices, Dr. Claus Müller, kam nach dem äußerst regen Austausch zum Schluss, dass auch in dem traditionell sehr von den Mitgliedstaaten bestellten Politikbereich eine neue Dynamik entstanden sei: Ein durchaus passendes Fazit zum Europatag 2022!
Prof. Dr. Frank Hoffmeister
Der Autor ist Vorsitzender des Vorstands der EUD Brüssel