Großer Durchbruch oder Kompromiss zu Lasten der Menschenrechte?
Von OKR´in Katrin Hatzinger, Leiterin der Vertretung der Evangelischen Kirche in Deutschland bei der EU
Nachdem in der Legislatur 2014-2019 der Versuch, das gemeinsame europäische Asyl- und Migrationsrecht zu reformieren, aufgrund unüberbrückbarer Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten gescheitert war, unternahm die Europäische Kommission am 23. September 2020 einen neuen Anlauf, um ein tragfähiges Reformkonzept vorzulegen. Zu diesem Zweck schlug sie einen „Neuen Pakt für Asyl- und Migration“ vor, der Solidarität und Verantwortung in Ausgleich bringen, Sekundärmigration verhindern, Rückführungen von nicht-asylberechtigten Antragsstellern erleichtern und mehr legale Migration ermöglichen sollte.
Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur hoch umstrittenen Reform des Europäischen Asylrechts war die Einigung der Innenministerinnen – und minister auf ihre Tagung am 8. Juni 2023 in Luxemburg über zwei Kernvorhaben des „Neuen Pakts für Asyl und Migration“, der aber nicht unumstritten ist:
1) Einigung zur Asylverfahrensverordnung
Nach langen und schwierigen Verhandlungen haben sich die Fachministerinnen und – minister darauf geeinigt, dass Menschen, deren Asylbegehren wenig Aussicht auf Erfolg haben (Anerkennungsquote unter 20%), sog. beschleunigte Grenzverfahren durchlaufen sollen. Diese können bis zu 12 Wochen dauern, das anschließende Rückführungsverfahren noch einmal so lange. Bis dahin können die Antragsteller, auch Minderjährige, inhaftiert werden. Lediglich unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind von den Grenzverfahren grundsätzlich ausgenommen, nicht aber Familien mit ihren Kindern. Hier könnte sich die deutsche Innenministerin Faeser nicht durchsetzen. Wer über einen sog. sicheren Drittstaat eingereist ist, kann dorthin zurückgeführt werden, die Art der Verbindung zu diesem Staat kann der zuständige Mitgliedstaat festlegen, es kann sich auch lediglich um die Durchreise handeln. Auch hier hatte sich Deutschland erfolglos für das Vorliegen einer engeren Bindung zu dem Drittstaat etwa durch einen vorherigen Aufenthalt eingesetzt. Zur Durchführung von Verfahren an der Grenze müssen die Mitgliedstaaten angemessene Aufnahme- und Personalkapazitäten aufbauen, wie sie erforderlich sind, um jederzeit eine bestimmte Zahl von Anträgen zu prüfen und Rückkehrentscheidungen vollstrecken zu können. Die angemessene Kapazität auf Unionsebene soll bei 30 000 Plätzen liegen.
Zu diesem Verordnungsvorschlag hat das Europäische Parlament in seiner Plenarsitzung vom 17. bis zum 20. April 2023 seine Positionen bereits bestimmt, ebenso wie zur Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung, zur sog. Screening- und zur Krisenverordnung. Die Einigung mit dem Rat zu diesem Dossier dürfe sich schwierig gestalten, da es in vielen Punkten völlig entgegengesetzte Positionen gibt. Nach dem Willen des Europäischen Parlaments soll es z.B. im Grundsatz keine verpflichtenden Grenzverfahren geben. Zudem möchte das Europäische Parlament erreichen, dass Minderjährige unter 12 Jahren und ihre Familienangehörige davon ausgenommen werden sollen.
2) Einigung zur Asyl- und Migrationsmanagementverordnung
Die Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement soll die geltende Dublin-Verordnung ersetzen, gleichzeitig wird am Kriterium der Ersteinreise festgehalten, das Familienkriterium wird nach dem Willen der Fachminister auf die Kernfamilie reduziert. Es gibt nunmehr zudem einen verpflichtenden, aber flexiblen Solidaritätsmechanismus, er sieht neben der Umsiedlung von Schutzbedürftigen in andere EU-Länder, auch finanzielle Unter- stützungsmaßnahmen oder Beiträge zum Kapazitätenaufbau vor.
Es wird eine jährliche Mindestanzahl von 30 000 Plätzen für Übernahmen von Schutzbedürftigen geben. Für die Staaten, die keine Schutzsuchenden aufnehmen, wird die jährliche Mindestzahl für Finanzbeiträge übereinstimmenden Medienberichten zufolge auf 20 000 € pro Übernahme festgesetzt wird. Diese Zahlen können bei Bedarf erhöht werden, und es werden auch Situationen berücksichtigt, in denen in einem bestimmten Jahr kein Solidaritätsbedarf vorgesehen ist. Um Sekundärmigration, also das Weiterwandern von Antragsstellern in einen anderen EU-Staat, zu verhindern, werden die Regeln verschärft und die Möglichkeiten für die Übertragung oder Verschiebung der Zuständigkeit zwischen den Mitgliedstaaten u.a. durch längere Fristen eingeschränkt.
Auch hinsichtlich dieses Gesetzgebungsvorschlags gibt es einige Divergenzen zur Position des Europäischen Parlaments. Dieses hatte sich dafür stark gemacht, dass bis zu 80% der Solidaritätsverpflichtungen der Mitgliedsstaaten aus Umsiedlungen bestehen sollten und nur 20% aus Sachleistungen. Außerdem hat das Parlament einige der Zuständigkeitskriterien erweitert, etwa auch Geschwister in die Familiendefinition aufgenommen und das Vorliegen von Qualifikationen und Berufsabschlüssen aus einem EU-Mitgliedsstaat als Zuständigkeitskriterium beibehalten, wie von der EU-Kommission vorgeschlagen.
Die EU-Innenminister standen unter einem starken (innen-) politischen Druck, um nach jahrelangen Verhandlungen eine Lösung zu erzielen. Die Anzahl der Staaten wie Deutschland, die eine humanitäre Flüchtlingspolitik vertreten, ist über die Jahre immer kleiner und die Anzahl der Staaten, in denen rechte oder rechtspopulistische Parteien den Ton angeben immer größer geworden. Die Rhetorik vom „Kontrollverlust“ und die Überforderung einzelner EU-Staaten bei Unterbringung und Versorgung haben den Druck für eine Einigung bis zu den Europawahlen 2024 erhöht. Deutschland war in vielen Bereichen isoliert und konnte seine Vorstellungen nicht durchsetzen.
Der menschenrechtliche Preis für die Einigung ist allerdings (zu) hoch. Angesichts der Erfahrungen der letzten Jahre mit der Lage an den EU-Außengrenzen steht zu befürchten, dass ohne umfassenden Zugang zum Asylverfahren, ohne eine angemessene Prüfung des Asylbegehrens und ausreichenden Zugang zu Rechtsschutz zahlreiche Schutzbedürftige lange inhaftiert oder in Drittstaaten abgewiesen werden, zu denen sie im Zweifel keinerlei Verbindung haben und lediglich durchgereist sind. Die Inhaftierung von Familien mit ihren minderjährigen Kindern an den EU-Außengrenzen ist ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht. Lager an den EU-Außengrenzen lassen die weitere Zunahme von Menschenrechtsverletzungen in rechtlichen Grauzonen (Fiktion der Nicht-Einreise) und push-backs befürchten.
Das Gesetzgebungsverfahren ist noch nicht abgeschlossen. Aktuell laufen die sogenannten Trilog-Verhandlungen zwischen Rat, Kommission und Europäischem Parlament. Deutschland hat bereits angekündigt, gemeinsam mit Portugal, Irland und Luxemburg für Verbesserungen einzutreten, insbesondere hinsichtlich einer Ausnahme für Familien vom Grenzverfahren.
Die Autorin ist Beisitzerin im Vorstand der Europa-Union Brüssel