Die Geschwindigkeit in der die Impfstoffe gegen Covid-19 entwickelt wurden, beweist, zu welchen Höchstleistungen die Menschheit fähig ist. Ohne den Forschungsstandort Europa, die kontinuierliche europäische Grundlagenforschung und eine rasche und entschiedene öffentliche Förderung durch die europäischen Regierungen wäre dies nicht möglich gewesen.
Die erste Plenarsitzung der Konferenz zur Zukunft Europas fand am 19. Juni 2021 in Straßburg statt. Ironie der Geschichte: Da sich das Auswahlverfahren verzögert hatte, noch ohne jegliche Bürgerbeteiligung. Während MdEP Guy Verhofstadt, einer der drei Vorsitzenden, betonte, dass die Konferenz notwendig sei, um die EU fit für die Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte zu machen, nutzte Ungarns Regierungschef Viktor Orban die Plenarsitzung als Anlass, um auf einer Rede in Budapest zu fordern, dass die nationalen Parlamente der EU-Staaten das Recht bekommen sollten, gesetzgeberische Prozesse im EU-Parlament anzuhalten, sollten nationale Kompetenzen verletzt sein. Das Europäische Parlament habe sich in Bezug auf Kriterien der europäischen Demokratie als Sackgasse erwiesen, so Orban. Die Aussagen der Politiker zeigen exemplarisch das Spannungsverhältnis, in dem sich die Konferenz bewähren muss. Während Pro-Europäer sich von der Konferenz Impulse für mehr Integration versprechen, steht die Polemik des ungarischen Premiers stellvertretend für diejenigen, die den Einfluss Brüssels auf die nationale Politik einschränken möchten.
Basierend auf einer Idee des französischen Präsidenten Emmanuel Macron aus dem Jahr 2019 und aufgegriffen von der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu Beginn ihres Mandats sollen europäische Bürgerinnen und Bürger nunmehr knapp ein Jahr lang die Gelegenheit haben, über verschiedene europäische Zukunftsthemen zu diskutieren und ihre Erwartungen und Ideen an die EU vorzubringen.
Ursprünglich sollte der Startschuss für die Konferenz bereits am 9. Mai 2020 fallen. Angedacht war eine Dauer von zwei Jahren. Doch die pandemiebedingten Restriktionen und ein Streit unter den EU-Institutionen über die Finalität und die Vorsitzfrage sorgte dafür, dass das Vorhaben erst mit einem Jahr Verspätung umgesetzt werden konnte. Der gefundene Kompromiss besteht nun in einem Triovorsitz, der sich aus dem Präsidenten des Europäischen Parlaments David Sassoli (S&D/Italien), der Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen und dem Regierungschef des den Ratsvorsitz innehabenden Mitgliedstaates zusammensetzt. Was die Finalität angeht, sollen die Ideen und Anregungen der Bürgerinnen und Bürger in Form von Schlussfolgerungen im Frühjahr 2022 in die künftige Arbeit der EU-Institutionen einfließen.
Bereits vor dem offiziellen Konferenzauftakt ist am 19. April 2021 als zentrales Element der Konferenz eine mehrsprachige digitale Plattform gestartet worden, die unter dem Einsatz Künstlicher Intelligenz Übersetzungen in Echtzeit vornimmt und pan-europäische Diskussionen ohne jegliche Sprachhürden verspricht. Wer sich aktiv beteiligen möchte, muss sich an die Charta der Konferenz halten, die einen respektvollen Umgang miteinander garantiert. In das Forum einbringen kann man sich auf drei Wegen, indem man an einer Veranstaltung teilnimmt, eigene Ideen teilt oder bestehende unterstützt oder eine eigene Veranstaltung ausrichtet. Die Zukunftskonferenz stellt Leitfäden und Kampagnenmaterial zur Organisation eigener Veranstaltungen zur Verfügung.
Die Konferenz soll ein breites Spektrum an Themen behandeln, die bereits vorgegeben sind. Es reicht vom Kampf gegen den Klimawandel, über Wirtschaft für die Menschen, soziale Gerechtigkeit, Gleichheit, intergenerationelle Solidarität, digitaler Wandel, Europas Rechte und Werte einschließlich der Rechtsstaatlichkeit bis hin zu den Herausforderungen durch die Migration. Darüber hinaus können die Teilnehmenden aber auch eigene Themen einbringen.
Die Grundstruktur der Konferenz besteht aus drei zentralen Säulen: nämlich dem sog. Exekutivkomitee, der Plenarversammlung und den Bürgerforen, die sich ihrerseits in europäische Bürgerforen und Bürgerforen auf nationaler und regionaler Ebene unterteilen.
Das Exekutivkomitee soll den Konferenzablauf überwachen und die Sitzungen des Konferenzplenums vor- und nachbereiten. Es setzt sich aus den Präsidenten der drei EU-Institutionen und ihren Stellvertretern sowie Vertretern von Rat und Parlament mit Beobachterstatus zusammen. Mindestens halbjährlich soll – als zweite Säule − eine Plenarversammlung stattfinden, die aus den Vertretern der drei Institutionen, Vertretern nationaler Parlamente, dem Ausschuss der Regionen, dem Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft besteht. Die dritte Säule bilden die sog. nationalen, regionalen und europäischen Bürgerforen aus zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern. Dabei soll ein repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung nach Herkunft, Geschlecht, Alter, sozioökonomischem Hintergrund und Bildungsgrad einbezogen werden mit einem besonderen Fokus auf junge Menschen.
Das Anliegen der Konferenz, die EU-Politik angesichts der zahlreichen Herausforderungen stärker an die Wünsche der Bürgerinnen und Bürger rückzubinden und gemeinsam neue Zukunftsvisionen für die EU zu entwickeln, ist klar zu befürworten. Die Konferenz bietet die Chance, repräsentative und partizipative Demokratie in einem gemeinsamen Format zu kombinieren und neue Impulse für das europäische Miteinander zu generieren. Doch nicht nur angesichts des holprigen Starts erscheinen Bedenken angebracht. So besteht die Gefahr enttäuschter Erwartungen. Weiterhin unklar ist, nach welchen Kriterien, welche Ideen von wem, wie genau aufgegriffen werden und wie der Feed-back-Prozess sich darstellen wird. Angesichts der unterschiedlichen Motivationslage der einzelnen institutionellen Akteure ist auch noch nicht abzusehen, wer sich hinsichtlich der Folgemaßnahmen durchsetzen wird. Das Parlament erhofft sich von der Konferenz Rückenwind für eigene Reformziele etwa zum eigenen Initiativrecht und würde auch Vertragsänderungen befürworten.
Die Mitgliedstaaten stehen dem ganzen Unterfangen weitestgehend skeptisch bis ablehnend gegenüber. Der institutionelle Streit ist für den Moment beigelegt, er schwelt aber weiter und dieser Konflikt behindert die benötigte Transparenz, Sichtbarkeit und Effektivität der Konferenz. Schließlich zeichnet sich ab, dass angesichts des eher geringen Bekanntheitsgrads der Konferenz, des begrenzten Zugangs zu den Bürgerforen (Zufallsprinzip) und angesichts der Hürde der Registrierung auf der online-Plattform eher diejenigen vorrangig das Wort ergreifen und die Debatte prägen, die sich ohnehin besonders pro- oder eben anti-europäisch engagieren. Der Mehrwert der Konferenz bestünde aber gerade darin, authentische Beiträge von Bürgerinnen und Bürgern aus allen EU-Mitgliedsstaaten und aus möglichst allen Bevölkerungsschichten zu hören und Menschen und Meinungen miteinander in Austausch zu bringen. Es bleibt abzuwarten, ob die Stimme der „stillen Mehrheit“ (Ursula von der Leyen) über die genannten Instrumente ausreichend Gehör finden wird, um der europäischen Demokratie tatsächlich neuen Schwung zu verleihen. Eine Konferenzdauer von einem knappen Jahr scheint dafür nicht ausreichend. Der Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern über Grenzen hinweg muss auch über 2022 hinaus weitergehen.
Den Link zur Konferenzplattform finden Sie unter: https://futureu.europa.eu/?locale=de
OKR’in Katrin Hatzinger, Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), Der Bevollmächtigte des Rates, Leiterin der Dienststelle Brüssel
Bildnachweis: Deutschlandradio – Anke Beims