Was kann Europa von der Bundestagswahl erwarten?

Written by teresag

Juli 1, 2021

Auf Einladung der Europa Union Deutschland, Ortsverband Brüssel, diskutierten am 30.06.2021 in der Landesvertretung Hessen sechs deutsche EU-Abgeordnete aus den im Bundestag vertretenen Fraktionen über ihre europapolitischen Vorstellungen für die nächste Bundesregierung: Dr. Markus Pieper (CDU), Jens Geier (SPD), Prof. Dr. Jörg Meuthen (AfD), Nicola Beer (FDP), Dr. Martin Schirdewan (DIE LINKE) und Sven Giegold (GRÜNE).

Unser Vorstandsmitglied Ottmar Berbalk moderierte die lebhafte zweistündige Europaunionsveranstaltung gekonnt entlang der aktuell relevantesten EU-Themen wie Wirtschaft und Soziales, Außenpolitik, Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts, sowie die ganz große Frage zur Zukunft der EU. Bereichert wurde die Diskussionsrunde um Fragen der über dreihundert Zuschauer. Wenige Wochen vor der Wahl zum 20. Bundestag am 26.09.2021, die über den neuen Kanzler oder die neue Kanzlerin des größten EU-Mitgliedslandes entscheiden wird, ist bereits klar, dass der Wahl europaweit große Beachtung geschenkt wird.

In der Begrüßung verdeutlichte die hessische Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten, Lucia Puttrich, die europapolitische Bedeutung der Bundestagswahlen sowie die wichtige Rolle Deutschlands und der zukünftigen Regierungskoalition für Europa. Dabei sprach sie sich für eine starke, proeuropäische Bundesregierung aus.

In den Eingangsstatements stellten die Abgeordneten ihre zentralen europapolitischen Vorstellungen in den Vordergrund. Nicola Beer forderte, Deutschland solle einen neuen Aufbruch in Europa mitgestalten, um einem Auseinanderdriften der EU entgegenwirken. Denn Initiativen für weitere EU-Integrationsschritte hätte Berlin selten schnell und kraftvoll beantwortet.

Mit Blick auf die EU-Zukunftskonferenz sprach sie sich auch für institutionelle Reformen unter stärkerer Bürgerbeteiligung aus. Dr. Markus Pieper empfahl den ehemaligen Europaabgeordneten und Kanzlerkandidaten Armin Laschet als „glühenden Europäer“ und forderte eine europäische „Verteidigungsgemeinschaft ohne Wenn und Aber“. „Mehr Europa“ sei nötig und auch im deutschen Interesse. Jens Geier lobte das Investitionspaket Next Generation EU als zentrales Instrument, um Europa aus der Corona-Krise zu führen. Europapolitische Schwerpunkte sah er bei den Themen Steuergerechtigkeit, Klimaneutralität und neue Herausforderungen in der Außenpolitik: „Das Einstimmigkeitsprinzip ist nicht mehr zeitgemäß“. Vielmehr seien Mehrheitsentscheidungen nötig, um die EU als „Akteur für eine menschenrechtsgesteuerte Außenpolitik“ zu stärken. Sven Giegold betonte: „Eine Bundestagswahl ist immer auch eine Wahl für Europa“. Zentral sei es nun, den nachhaltigen Wohlstand zu stärken. Dabei gelte: „Europa braucht Strukturen die handlungsfähig sind.“ Prof. Dr. Jörg Meuthen sprach sich gegen die in den Römischen Verträgen festgelegte „Ever closer Europe“, gegen den Green Deal sowie weitere Kompetenzverlagerungen auf die EU-Ebene aus und forderte eine Fokussierung auf den Binnenmarkt, Umwelt- und Naturschutz sowie die Außengrenzen. Dr. Martin Schirdewan analysierte die Bedeutung der Bundestagswahlen: „Europa schaut genau auf Berlin“. Er sah europapolitische Schwerpunkte in der Krisenbewältigung, der Armutsbekämpfung, dem digitalen Wandel, Klima-schutz sowie der Verteidigung der Demokratie.

Im Themenblock Wirtschaft und Soziales gab es an vielen Stellen parteiübergreifend Über-einstimmung darin, ein stärkeres europäisches Handeln zu ermöglichen und zu realisieren. Einzig Prof. Dr. Jörg Meuthen warnte hiervor. Einig waren sich die meisten Panelisten darin, dass Europa in der Corona-Krise solidarisch reagiert habe und so letztendlich gestärkt daraus hervorgegangen sei. Über den besten Weg zu den gemeinsamen Zielvorstellungen wurde dabei lebhaft diskutiert, insbesondere über weitere Schuldenaufnahme, einen EU-Investitionshaushalt und die parlamentarische Kontrolle des Prozesses.

Der Themenblock „Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts in der EU“ war von einer sehr lebhaften Diskussion um Grundwerte und Rechtsstaatsverstöße in verschiedenen Mitgliedsstaaten wie Bulgarien, Malta, Slowenien, Tschechien und Ungarn geprägt. Angesichts aktueller Rechtsstaatsverstöße sahen viele Panelisten die slowenische Rats-präsidentschaft mit Sorge. Bis auf Prof. Dr. Jörg Meuthen waren sich die Panelisten einig in der Forderung, Rechtsstaatsmechanismen zu stärken und über weitere Sanktionsinstrumente, auch im Rahmen der Zukunftskonferenz nachzudenken. Zur Sprache kam auch das von der EU-Kommission angestrengte Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland zur Rolle der EZB, zu dem sich unser Vorstandsvorsitzender Frank Hoffmeister kürzlich im Jura Podcast der ARD-Rechtsredaktion ausführlich geäußert hatte.

Auch der Themenblock Außenpolitik, der sich mit der Weltpolitikfähigkeit der EU beschäftig-te, wurde teils kontrovers diskutiert. Während sich die meisten Panelisten für ein Ende des Einstimmigkeitsprinzips aussprachen, wider-sprach Prof. Dr. Jörg Meuthen und betonte, dass die EU keine Rolle als globaler Macht-akteur anstreben solle. Auch über die Frage nach dem Umgang mit nicht demokratisch verfassten Staaten wurde lebhaft gestritten. Dabei ging es etwa um Nachhaltigkeitspflichten in Handelsbeziehungen mit Drittstaaten, das EU-China Investitionsabkommen und die Beziehungen mit den USA und der Türkei. Für die Außenbeziehungen wurde dabei vorgeschlagen, Lehren aus den Brexit-Verhandlungen zu ziehen, bei denen die EU erfolgreich an einem gemeinsamen Strang zog. Für alle Panelisten sind die Kopenhagener Kriterien die conditio sine qua non, die weitere Beitrittskandidaten erfüllen müssen.

In der Abschlussrunde skizzierten die Pane-listen, was sie vom nächsten Kanzler oder der nächsten Kanzlerin für EU erwarten. Dabei zeigten sich teils große parteipolitische Unterschiede – von der Forderung nach einer „Europäische Republik“ bis hin zu einer EU-Verschlankung. Mehr EU-Kompetenzen wurden dabei insbesondere in den Bereichen Außenpolitik und Klimaschutz, aber auch Sozial-politik und Digitalisierung gefordert, ergänzt um eine stärkere Rolle des Europaparlaments. Teilweise wurde auch eine stärkere Beachtung des Subsidiaritätsprinzips angemahnt, sowie eine verstärkte Zusammenarbeit williger EU-Mitglieder, um Blockaden für weitere Integrationsschritte zu überwinden. Das Schlusswort sprach unser Vorsitzender Prof. Dr. Frank Hoffmeister: Sein Fazit zur hochkarätigen Bundestagswahldiskussion durch die Brüsseler Brille: „Spannender als die Berliner Elefantenrunde“. Er schloss mit einem Appell an alle Europa-Interessierten, sich an der Mitgestaltung Europas zu beteiligen.

 

Klemens Kober

Der Autor ist Beisitzer im Vorstand der EUD Brüssel

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